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Heimsuchung

0217fiegenheim Das Rathaus von Spiekeroog sieht so aus, als ob es in einer Modelleisenbahnstadt stünde: ein zweistöckiges rotgeklinkertes Haus, an dem fast das Größte das Schild »Rathaus« über der Tür ist. Gleich hinter dem Eingang steht eine Büste von Johannes Rau, der jahrzehntelang seine Ferien auf Spiekeroog verbracht hat, in der Inselkirche geheiratet und dort seine drei Kinder hat taufen lassen. Nach einer Operation hat er sogar eine Zeitlang seine Amtsgeschäfte als Bundespräsident vom Spiekerooger Rathaus aus geführt; auf der Insel wird er auch acht Jahre nach seinem Tod noch verehrt.

Die Treppe hoch, und dann steht man auch schon im Büro von Bürgermeister Bernd Fiegenheim. Die Tür ist offen, ein Vorzimmer gibt es nicht, der Bürgermeister kocht persönlich den Tee. Was uns auch gleich zum Thema bringt, das mir auf der Insel immer wieder begegnet ist: Zuständigkeit. Was hier zu tun ist, muss man selber machen. In der Großstadt kann man sein Leben wegdelegieren, hier nicht. Hätte man gern einen Fußballverein für die Kinder? Dann muss man es persönlich in die Hand nehmen. Sind Bäume im Sturm gefallen? Die beseitigen sich nicht von allein. Es gibt keine Instanzen, über die es sich am Festland so bequem schimpft – »den Staat«, »die Politik« –, sondern es gibt Nachbarn. Der Lars vom Zeltplatz-Kiosk: Vorsitzender des achtköpfigen Gemeinderats. Frauke Strothmann vom Islandhof: zuständig für Dorfgestaltung und Bepflanzung; sie hat auch die Lederstühle im Ratssaal ausgesucht. In der Gemeindeverwaltung arbeiten sieben Leute, alle mit Mehrfachfunktionen: Annette Pichler ist Standesamt und Einwohnermeldeamt und Bauamt in Personalunion. »Wir hatten einen Elektriker«, sagt Fiegenheim, »der eigentlich seit fünf, sechs Jahren gar nicht mehr offiziell zuständig ist. Das merkt man nur nicht, er kümmert sich einfach weiter um die Straßenlaternen.« Einer für alle, alle für einen, und jeder für sich: Im Gemeinderat gibt keine Parteien, »ich habe also keine Fraktionsvorsitzenden, mit denen ich reden kann, sondern muss bei jeder Entscheidung acht Einzelgespräche mit den Ratsmitgliedern führen.«

Was auf den ersten Blick so wunderbar basisdemokratisch und modelleisenbahnidyllisch klingt, wird bei Konflikten schnell hässlich. Nämlich persönlich. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen, man teilt das ganze Leben miteinander. Tagsüber arbeitet man zusammen, abends trifft man sich wieder im Sport- oder Musikverein oder in der einen Kneipe. Wenn es also kracht, dann richtig, weil unentrinnbar. Als vor einigen Jahren der millionenschwere Bremer Reeder und Investor Niels Stolberg begann, die Insel aufzukaufen – innerhalb kürzester Zeit gehörten ihm plötzlich ein gutes Dutzend Apartment-, Hotel- und Geschäftshäuser –, spaltete das die Gemeinde. Die einen sahen ihn als frische Brise, die anderen als Tsunami, der alles Gewachsene hinwegfegte. Pro Stolberg oder gegen ihn, diese Frage war die Sollbruchstelle von Spiekeroog. Plötzlich grüßten sich einige nicht mehr auf der Straße, plötzlich erstarben Gespräche an der Theke vom »Blanken Hans«, der Riss ging quer durch manche Familien.

Stolbergs Firmengeflecht ist seit 2011 pleite, seine Spiekerooger Immobilien, darunter auch das ehrgeizig gestartete Künstlerhaus, sind Teil der Insolvenzmasse; für einige Häuser haben sich bereits neue Besitzer gefunden (ein längerer FAZ-Artikel über Stolbergs Rolle auf Spiekeroog hier, ein noch längeres ARD-Feature über den ganzen komplexen Fall Stolberg und den Fall Stolbergs hier). Auch wenn alle froh sind, dass der Zankapfel wieder von der Insel gerollt ist – die Stolberg-Jahre haben Narben hinterlassen. Vielleicht um so mehr, als die Spiekerooger zuvor immer Meister im Sozialschach waren, wie das bei sehr kleinen hermetischen Gemeinschaften oft der Fall ist: Bei jedem Schritt wird abgewägt, welche Konsequenzen der wohl haben könnte. Ich will einen Baum im Garten pflanzen – wie findet das mein Nachbar? Und welche Auswirkungen hat seine Reaktion wiederum auf mich? Man muss immer zwei, drei Züge im voraus denken, Missverständnisse einkalkulieren oder besser gleich im Vorfeld ausräumen – und vieles einfach lassen.

Das bringt mich – Schnitt – zu mir und diesem Jahr. Schon nach zwei Monaten ist klar: Das geht nicht so wie bei der Weltreise. Kein bisschen. Vorher hatte ich naiv gedacht: Selbes Prinzip, zwölf Monate/zwölf Orte, nur dieses Mal halt in Deutschland – läuft. Läuft aber nicht. Ich kann nicht einfach so losreisen und -schreiben, wie ich das 2011 getan habe. Was ich schreibe, hat sofortigen Rückkoppelungseffekt auf das Beschriebene, das Beobachten verändert das Beobachtete. Und deshalb werde ich stumm und immer stummer. Oder auch scheu und immer scheuer. Mal eben in das Leben anderer hineinzuschlendern, von ihnen zu erzählen und sie quasi zu Statisten meines Projekts zu machen – mit welchem Recht denn bitte? Gerade auf Spiekeroog, das ich in den vergangenen vier Wochen sehr lieb gewonnen habe, erscheint mir mein Tun plötzlich mächtig ungezogen. Die Leute hier haben mir freundlich die Türen geöffnet (die ja ohnehin nie abgeschlossen sind, auch das sagt viel über Spiekeroog), da gehört es sich nicht, sie vor meine innere Kamera zu zerren. Lieber bei der tollen Tante Fidi oder den so enorm liebenswerten Schröders Tee trinken und Kekse essen und dann nichts schreiben als deren Vertrauen zu missbrauchen. Ich mag auf der Suche nach meiner Heimat keine Heimsuchung sein.

Und deshalb mache ich an dieser Stelle Schluss. Es tut mir von Herzen leid, aber ich werde vorerst nicht mehr bloggen. Leben ist wichtiger als Schreiben, habe ich beschlossen. Kurz habe ich überlegt, das ganze Unternehmen gleich ganz abzubrechen und einfach nach Hamburg zurückzufahren (denn wozu den Umweg über Bochum und Bielefeld machen, wenn ich eh schon weiß, wo mein Zuhause ist?), aber dafür bin ich leider zu neugierig. Also geht es am Donnerstag weiter nach Potsdam, nur ab sofort eben nicht mehr mit dem Block in der Hand und dem Blog im Kopf und einem möglichen Buch im Blick. Ich möchte mir wenigstens einen Teil der Unbefangenheit und Absichtslosigkeit zurückerobern, die mich damals auf der Weltreise so weit gebracht haben. Kann sein, dass die für alle Zeiten dahin sind – ganz aufgegeben habe ich sie aber noch nicht.

Noch mal Schnitt. Bernd Fiegenheim habe ich über das Bullerbü-Prinzip von Spiekeroog ausgefragt, das nach meiner Wahrnehmung Segen und Fluch zugleich für die Insulaner ist. Für viele Stammgäste, die oft in dritter oder vierter Generation auf die Insel kommen, ist die Insel ein Stück heile Welt. Ein paar Wochen im Jahr lebt man den Traum von Gemeinschaft, wie man ihn zuhause schon längst nicht mehr kennt. Ein Leben, wie man es als Kind gemalt hat: den Bäcker, den Polizisten, den Pfarrer, den Bürgermeister, den Bildhauer, den Briefträger, den Dünensänger, den Typen mit dem Gänseblümchen im Bart. Vertraut seit Jahrzehnten. Verlässlich. Und deshalb auch verlangt. Wie ist es, so eine Rolle im Leben der Gäste zu spielen, so ein stabiles Paralleluniversum darstellen zu sollen, habe ich Fiegenheim gefragt, auch wenn man sich selbst mit ganz anderen Problemen herumschlägt? Mit Problemen wie der Stolberg-Pleite und den dringend zu erneuernden Pflasterstraßen außerhalb des Dorfes, die eigentlich Kreissache wären, wenn es nun mal keine Insel wäre, und dem Kinderhort, der auch für die derzeit sieben Kinder betrieben werden muss, und dem quälendsten Problem, dem fehlenden Wohnraum für die Insulaner, der einfach nicht gebaut wird, weil kein Investor da ran mag: 1,5mal höher als auf dem Festland sind die Baukosten wegen der Transportwege für die Baumaterialien und der über Monate zu finanzierenden Unterkünfte für die Bauarbeiter von drüben.

Bernd Fiegenheim ist ein verbindlicher Mann, ein studierter Sozialpädagoge, ehemaliger Leiter eines Mutter-und-Kind-Erholungsheims. Und deshalb hat er auch verbindlich und nicht in diesen Worten auf meine Fragen geantwortet: Die ständige Verfügbarkeit, die hohe Vertraulichkeit, die »Ich komme schon seit 30 Jahren hierher«-Ansprüche, die fast schon familiäre Beschlagnahmung durch die Stammgäste – das schlaucht. Wie gesagt: hat er nicht gesagt. Ich mutmaße nur. Die Heile-Welt-Erwartungen der Besucher erfüllen zu müssen, während ganz andere Mächte an einem zerren, Saison um Saison eine Tip-Top-Performance zu bieten, aber dabei bitte wahnsinnig authentisch, denn das ist nun mal die Existenzgrundlage dieses Dorfes – das schlaucht.

Hat er nicht gesagt. Mutmaße ich nur. Kann sein: aus Gründen. Kann sein, dass ich mit der Situation was anfangen kann. Jedenfalls möchte ich keine Heimsuchung sein, nicht hier und nicht in den nächsten Orten. Ich bin ab sofort einfach nur da und schaue mich ohne Verwertungszwang um, der Rest ergibt sich. Oder halt nicht. Wie das Leben eben spielt.

Lüch up und fleu herut

0222klootboys Die Sache mit dem Klootschießen ist ein paar Jahrhunderte alt und deshalb eine verdammt ernste Angelegenheit. Die Ostfriesen waren damals gefürchtet wegen ihrer Wurftechnik, mit der sie feindliche Schiffe beschossen – wozu Kanonen, wenn man die Kugeln auch einfach per Hand feuern konnte? Seitdem wird das Werfen eine Spur friedlicher an Land ausgetragen, Kleinkriege sind die Wettkämpfe aber trotzdem geblieben. In den ostfriesischen Zeitungen nehmen die Berichte über das Boßeln und Klootschießen im Sportteil oft mehr Seiten ein als die Fußball-Bundesliga – der Friesische Klootschießerverband hat immerhin 40.000 Mitglieder.

0222kloot Beim Spiekerooger Klootschießen tritt Westerloog gegen Osterloog an, also der Westteil der Insel gegen den Osten (die Grenze ist die Westmauer der Alten Inselkirche). Fast immer gewinnen die Westerlooger, in den letzten paar Jahren allerdings die Osterlooger. Die wurden deshalb nach altem Brauch zur Revanche gefordert, indem der Kloot, eine mit Blei ausgegossene Apfelholzkugel, in den ersten Baum jenseits der Demarkationslinie gehängt wurde. Bloß ließen die Osterlooger den Kloot seit Dezember einfach hängen – Herausforderung verweigert.

Bis heute morgen. Ging auch nicht anders, denn heute Abend ist Teeabend. Was so harmlos klingt und tatsächlich auch ganz harmlos mit Butterkuchen beginnt, ist die alljährliche legendäre Party, bei der die Spiekerooger noch ein letztes Mal unter sich sind und feiern, bevor sich am nächsten Wochenende mit dem Eintrudeln der nordrhein-westfälischen Karnevalsflüchtlinge die Insel wieder füllt. Allerspätestens Ostern ist es dann endgültig vorbei mit der Ruhe.

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0222blümchen Normalerweise wird auf Kahlfrost gespielt, auf gefrorenen, aber schneefreien Feldern. Die sind in diesem Jahr nirgendwo zu finden, also zog man bei strammem Südwestwind an den Strand. Zwanzig Mann, zweimal zwei Fünferteams, Mann gegen Mann, Wurf gegen Wurf, mit ausgeklügelter Technik gegen Böen und Strandgefälle – und zu meiner Überraschung mit null Alkohol. Kein Flachmann, kein Köm, nix. Die Jungs nehmen die Sache wirklich ernst. Okay, es war neun Uhr morgens, aber trotzdem… Oben übrigens der 1. Vorsitzende des Spiekerooger Klootschießervereins in Aktion, Eckhard »Ecki« Wilken, links »Blümchen« (der normalerweise ein Gänseblümchen im Bart trägt, hier leider vom Winde verweht), ein Käkler – so heißen hier die Zuschauer – wie ich.

Gewonnen haben nach rund 90 Minuten die Westerlooger mit einem Schoet und 53 Metern Vorsprung. Nicht dass das wichtig wäre. Oder doch: nachher beim Teeabend.

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P.S. Wen die Überschrift mystifiziert: Das ist der traditionelle Gruß der Klootschießer. Grob übersetzt: »Heb’s auf und wirf es weg.«

Seenot

0218drinkeldoden 1854 strandete das Auswandererschiff Johanne im Orkan vor Spiekeroog. Die damals 134 Insulaner mussten hilflos vom Strand aus zusehen, wie 77 Menschen starben. Ein Rettungsboot gab es nicht, es hätte wohl im Sturm auch keine Chance gehabt. Die überlebenden 150 Passagiere wurden von den selbst bitterarmen Spiekeroogern in ihren dreißig Häusern aufgenommen, verpflegt und teils neu eingekleidet. Die namenlosen Toten bestattete man auf dem Drinkeldodenkarkhof, dem Friedhof der Ertrunkenen, der heute eine kleine Gedenkstätte ist.

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DBP_1990_1465-R Der Untergang der Johanne war Auslöser dafür, dass man überall an der Küste Rettungsstationen einrichtete, die von Spiekeroog wurde 1862 gebaut. Drei Jahre später wurde die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet, die heute als einer der bestausgestatteten Seenotrettungsdienste der Welt gilt.

Auf solche Geschichten stößt man eher zufällig auf der Insel, ebenso auf ein Projekt, das inzwischen zu einem meiner liebsten Schnitzeljagdvergnügen geworden ist und das mir an der alten Rettungsstation oben erstmals auffiel: An verschiedenen Punkten der Insel hat der Hamburger Ankerherz Verlag (der tolle Bücher wie dieses hier verlegt) zehn auf Holz gedruckte Fotos aufgehängt, die von alten Kapitänen von ihren Reisen mitgebracht worden sind. Die verwittern jetzt langsam durch Wind, Regen und Sonne und erzählen dadurch um so eindrücklicher vom harten Leben auf See und an der See.

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Schnaps ist Schnaps

0217sanddorn Sanddornschnaps selber machen geht so: Sanddorn ernten, indem man Zweige vom Strauch abschneidet, sie von Blättern und Dornen befreit und in die Gefriertruhe legt. Die Beeren fallen dann von allein ab. Pressen, pro Liter Saft 700 Gramm Kluntjes durch vorsichtiges Erwärmen auflösen, mit Wodka mischen und in Flaschen füllen. (Faustregel: 400 ml Wodka, 300 ml Sanddornsaft). Ziehen lassen. Trinken. Glücklich sein.

0217indra Das Rezept und einen ausgesprochen lustigen Abend mit dessen Ergebnis verdanke ich Indra, Physiotherapeutin, Masseurin, Sporttrainerin und Mädchen für alles im Hotel Strandidyll. »Ich wohne im Feuerwehrhaus, Treppe hoch, da, wo die vielen Schuhe stehen«, hatte sie gesagt (wie mir überhaupt auf der Insel noch nie eine Adresse genannt wurde, sondern immer nur Beschreibungen: »da, wo die Hüpfburg im Garten ist«, »neben dem Friedhof, das zweite Haus«). Indra ist wie so viele gerade frisch aus dem Urlaub zurück – wer einem hier im Februar mit einer gesunden Bräune entgegenradelt, ist todsicher Insulaner.

Sie ist seit neun Jahren auf der Insel. Hängengeblieben, nachdem sie jahrelang in aller Welt unterwegs war: als Masseurin auf einem Kreuzfahrtschiff, als Backpackerin in Australien, Neuseeland, Südamerika. Nach Deutschland wollte sie eigentlich nicht wieder zurück, auf Spiekeroog wollte sie nur jobben, um ihren nächsten Australien-Trip zu finanzieren. »Aber dann habe ich gemerkt: Das ist hier gar nicht wie Deutschland.« Und ist geblieben.

Wie kommt man rein in so eine Inselgemeinschaft? Indem man ihr was gibt. Indra boßelt mit den Älteren, spielt mit den Jüngeren Volleyball, tritt mit der Plattdeutsch-Gruppe »Sabbelschnuten« auf und bietet montags Wirbelsäulengymnastik an. »Komm doch einfach hin«, sagte sie gestern, nachdem wir die Flasche und die ostfriesischen Neujahrskuchen schon ziemlich niedergemacht hatten. Klar bin ich gekommen. Mannmannmann – vermutlich habe ich morgen dank ihrer teuflischen Übungen größere Koordinationsprobleme als nach drei Litern Sanddornschnaps.

Kurz mal in meinen Kalender geschaut: knapp zwei Wochen hier, acht Abende unterwegs gewesen. Mal zur Booktied, einem monatlichen Buchclub, den einige Frauen organisiert haben, mal zu einem wirklich fantastischen Konzert zum Thema Heimat, bei dem Moritz Berg, der Veranstaltungsbeauftragte der Kurverwaltung, gleich selbst (und sehr gut) sang, mal zu Essenseinladungen, mal habe ich spontan vor Lehrerin und Schülern des Internats gelesen – ich habe mir die Tage und die Nächte auf Spiekeroog stiller vorgestellt. Jetzt schon wird klar: Was hier passiert und was nicht, steht und fällt mit dem Engagement einzelner – Indra ist da nur ein Beispiel von vielen. Man kann sich hier nicht verstecken, wie es neulich schon hieß, und man kann sein Leben nicht wegdelegieren. Bei 750 Bewohnern ist jeder selbst dafür verantwortlich, dass hier was geht. Das kann anstrengend sein – aber was man alles zum Gehen bringen kann…!

Haltbar

0215apfel Spiekeroog lebt vom Tourismus – manchmal auch auf unvermutete Weise. Als ich bei Margret und Ulrich Bauer zum Tee eingeladen war, gab es Apfelkuchen aus Dünenäpfeln, geerntet von Bäumen, die aus achtlos in die Landschaft gepfefferten Griebschen gewachsen waren. Und seine Nordic-Walking-Stöcke hat Uli Bauer aus dem Müll gefischt, ein Tourist hatte sie entsorgt.

Die beiden sind gerade zurück vom Urlaub auf La Palma, wie viele Insulaner nutzen sie die ruhige Vorsaison, um noch mal zu verschwinden. Ich muss lachen: La Palma, Urlaub auf einer Insel? »Das ist keine Insel für mich«, sagt Margret Bauer, »da gibt es Autoverkehr, sie ist 45 Kilometer lang…« Wir kommen auf die Frage, was einen zum Inselbewohner befähigt. »Uns wird immer die Frage gestellt, ob es hier nicht schrecklich einsam und langweilig sei im Winter. Nein. Es gibt 750 Bewohner, die ständig miteinander und übereinander reden. Wie viele Leute kennen Sie zum Beispiel in Hamburg? Auf einer Insel hat man mehr Kontakt als einer Großstadt, man kann sich nicht verstecken.« Und das könne nicht jeder aushalten. Margret Bauer hat lange im Einwohnermeldeamt der Insel gearbeitet. »Ich habe den Leuten angesehen, ob sie bleiben werden oder nicht.«

1992 hat mein Stern-Kollege Wolfgang Röhl ein sehr gehässiges, inzwischen legendäres Stück über Spiekeroog geschrieben, »In der grünen Hölle«. Es ging darin um die angebliche Öko-Diktatur der Insel, auf der alles verboten sei. »Der Stammgast (mittleres Beamtentum, etwa Studienrat) trägt Birkenstockschuhe, eine wetterfeste Fjällräven-Jacke, ein Fernglas und ein Stirnband, gern in Regenbogenfarben. Seine Frau, zum Beispiel Sozialarbeiterin, hat eine Kurzhaarfrisur à la Anne Steinbeck-Klose und ist für die Kosmetikindustrie verloren. Sie führt immer einen Jutebeutel mit.« Und so weiter. Spiekeroog = Spießeroog. Hätte es damals schon das Internet gegeben, hätte Röhl einen mittleren Shit-Orkan ausgelöst, so war es nur eine Sturmflut an Leserbriefen. Hauptfigur seines Artikels war Uli Bauer, der heute nur milde über den damaligen Aufruhr lächelt. Er war 34 Jahre lang Gemeinderat und für zwei Amtszeiten, 1981 bis 1986 und 1996 bis 2001, Bürgermeister von Spiekeroog. Dass die Insel heute so ist, wie sie ist, das sei zu großen Teilen dem Uli zu verdanken, höre ich an allen Ecken. Wahnsinnig nervig sei er manchmal (einige sagen: meistens), aber maßgeblich am Erhalt von Spiekeroog beteiligt. Eigenhändig hat er aus Treibholz Schilder gebaut, »Bitte nicht die Dünen betreten« darauf geschrieben und sie an strategischen Stellen in die Landschaft gestellt – keine Verbotsschilder, denn in der sogenannten »Zwischenzone« des Nationalparks Wattenmeer dürfte man die Dünen eigentlich auch abseits der Wege betreten, aber als erzieherische Maßnahme ungemein wirkungsvoll. Die Insel hat eine derart ausgedehnte und intakte Dünenlandschaft, dass die Spiekerooger durch die Süßwasserlinsen, die sich darin gebildet haben, keine Wasserlieferung vom Festland brauchen.

Ein paar Tage nach der Tee-Einladung gehe ich drei Stunden lang mit Uli Bauer über die Insel, lerne dabei, wie Dünen geboren werden, vergreisen und sterben (anders als ein Wald erneuert sich eine Düne nicht), wie man ihr Alter am Bewuchs ablesen kann, wie sich die Insel im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Auf fast allen ostfriesischen Inseln liegt der Hauptort an der Westküste, gebaut war er aber einst in der alten Inselmitte – so sehr haben der beständige Westwind und die Wellen das Land im Westen abgetragen und im Osten wieder angeschwemmt. »Bei uns muss man anders denken als auf dem Festland«, sagt Bauer. »Nämlich bei allem die Frage stellen: Wie lange hält das?«

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Ein Fasan wandert durch den Garten, die Viecher sind überall hier. »Die wissen genau, wann Jagdsaison ist«, sagt Bauer, »dann sieht man sie plötzlich nicht mehr.« Und die Rehe? Eines von ihnen sah ich neulich morgens auf einem Dünenkamm, wie es versonnen aufs Meer blickte (ich romantisiere hier wild, wie meistens. Aber bitte, unten ist das Beweisfoto). Wie sind die auf die Insel geraten? »Übers Watt gewandert« sagt Bauer. »Aber oft ertrinken sie auch. Die haben ja keinen Gezeitenkalender.«

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An Rosalinde


Spiekeroog ist stolz auf alles, was es hier nicht gibt. Keine Autos, keine Hotelklötze, keinen Flugplatz, keinen Golfplatz. Nicht mal einen Fahrradverleih hat die Insel, es sei zu eng in den Straßen zum Fahren, heißt es (obwohl die Insulaner selbst jeden Meter mit dem Rad zurücklegen). Andererseits gibt es vieles, was es nirgendwo sonst gibt: ein Insel-Internat (dazu komme ich noch), eine Pferdebahn (siehe Fietefoto von heute) und einen Dünensänger.

1966 hat Eckart Strate, damals noch Student, begonnen, in den Dünen hinter der Spiekerooger Strandhalle Lieder zu singen. Jacques Brel, Cat Stevens, Beatles, was damals halt so ging. Schnell haben die Leute mitgesungen, erst 20, dann 30, irgendwann 400. Zusammen mit den Touristen übt Eckart Strate, heute Französisch- und Sportlehrer in Rente, seit bald 50 Jahren Popsongs und Choräle und Chansons wie La Mer und Kanons wie »Signor Abbate« oder wunderbare kleine Lieder wie »An Rosalinde« ein, die längst Evergreens des Dünensingens geworden sind. Inzwischen singt er mit der dritten Generation von Inselbesuchern.

Irgendwann kam sein Sohn Johannes Strate, Sänger von Revolverheld, auf die Idee, zusammen mit seinem Vater in dessen Wohnzimmer in Worpswede dieses alte Lied für sein Soloalbum einzuspielen. Und so hörte ich zum ersten Mal von Rosalinde, lange bevor ich nach Spiekeroog kam und die ganze Geschichte kennenlernte. Schade, dass kein Sommer ist, schade, dass Eckart Strate gerade nicht da ist. Ein Grund mehr, noch mal wiederzukommen.

Und hier ein älteres, aber lohnendes ZEIT-Porträt von Eckart Strate.

Gut, dass wir einander haben

0209inselkirche Der erste, den ich letzte Woche zum Tee besucht habe, war ein Kollege – der Presseonkel der Insel, wie er sich selbst nennt, Hartmut Brings, Chefredakteur und Herausgeber und Redakteur und Anzeigenverkäufer und alles mögliche andere des Spiekerooger Inselboten. Der erscheint im Winter monatlich, in der Saison wöchentlich. Auflage: im Schnitt 1400, 800 Abos gehen allein aufs Festland an Zweitwohnungsbesitzer und sehnsüchtige Buteninsulaner, also Ab- und Ausgewanderte. 1987 hat er als Student angefangen, hier Zeitung zu machen (ursprünglich als Aushang, erst 1990 hat er Druckmaschinen gekauft), zwischendrin war er mal beim Münchner Merkur, seit 2004 ist er wieder auf der Insel und lebt ganz gut als Pressezar und Quasi-Monopolist.

Brings war mir von vielen als einer der besten Inselkenner empfohlen worden, und so war es auch: Er gab viele gute Hinweise und nannte Kontakte. Was mich aber am meisten interessierte: Was verschlägt einen Journalisten auf so eine Insel – und was hält ihn hier? Seine Antwort fand ich überraschend: »Ich fühle mich hier sicherer. Ich bin lieber als einziger am Strand bei Windstärke 10 als allein auf einem U-Bahnhof in Hannover.« Ich weiß, was er meint: Ich gehe oft aus dem Haus, ohne meine Tür abzuschließen – ohne auch nur daran zu denken, sie abzuschließen. Das Gefühl, auf seltsame Weise behütet zu sein, vermittelt sich schon nach wenigen Tagen.

Dieses Gefühl hatte ich heute morgen gleich wieder in der Alten Inselkirche von 1696. Sie ist die älteste Kirche der ostfriesischen Inseln, ein kleiner Ziegelquader mit einem Anbau, der früher als Bootsschuppen und Leichenhalle gedient hat; die Glocke wird mit einem Seil von außen geläutet. In der Kirche brennen Kerzen in alten Messingleuchtern an der bemalten Holzwand, man quetscht sich auf schmale Bänke – und dann wird gesungen. Ich habe, glaube ich, noch nie so viel gesungen wie bei diesem Gottesdienst, alte und neue Lieder, es ist herzlich und angenehm familiär. Der Organist vergreift sich gelegentlich und hat auch gerade nicht die Noten zum »Gloria« zur Hand, egal, dann wartet man halt die paar Momente.

Das Innere ist eine wilde Mischung aus Jugendstilfenstern und Renaissance-Kanzel und einer Orgel aus den Sixties und einer Pietà, die angeblich von einem Schiff der spanischen Armada stammt, das 1588 vor der Insel gestrandet sein soll. Draußen pfeift der Wind um die Mauern, und wir singen noch ein Lied: »Gut, dass wir einander haben…« Es ist ein unendlich heimeliger Ort, und ich verstehe jetzt Hartmut Brings, der sagte: »Es ist ein schönes Gefühl, irgendwann mal tot in dieser Kirche zu liegen und zum Friedhof getragen zu werden.«

Alte Inselkirche, Norderloog 4. Der Gottesdienst findet nur im Winter in dieser Kirche statt, ab März wird in die Neue Dorfkirche aus den Sechzigern umgezogen, die mehr Platz auch für Touristen bietet.

Entoptionalisierung

0207bohlen

Einige moderne Lieblingsausdrücke für eigentlich ziemlich gute Ideen gehören zu den hässlichsten Wortschöpfungen der letzten Jahre. Nachhaltigkeit. Entschleunigung. Achtsamkeit. Ganzheitlichkeit. Ich möchte dieser Sammlung ein weiteres hinzufügen, das fast noch besser als die anderen zu Spiekeroog passt, zumal im Winter: Entoptionalisierung. Die Möglichkeiten auf einer Insel sind ohnehin schon begrenzt, das ist ja das Wunderbare an ihnen. Bereits die An- und Abreise unterliegt dem Gezeitenkalender: Bei Hochwasser geht’s, sonst nicht. Der Fahrplan ändert sich entsprechend ständig, die Abfahrzeiten liegen oft zu brutalen Zeiten: Die letzten vier Tage etwa ging es ab Neuharlingersiel am Mittwoch um 12 Uhr, am Donnerstag um 6 Uhr und 17.40 Uhr, am Freitag um 6.45 Uhr und 18 Uhr, heute um 6.40 Uhr und 16.40 Uhr. Ist der Wasserstand niedrig wie letzte Woche, kann das alles noch mal kurzfristig umgeworfen werden.

Ist man heil auf Spiekeroog gelandet, schnurrt die schöne grüne Insel, die da vor einem liegt, schnell auf eine Handvoll Sträßchen zusammen – eben, weil sie so schön und grün ist. Ganz Spiekeroog ist Naturschutzgebiet, von den 18 Quadratkilometern darf man etwa 90 Prozent – die gesamte Osthälfte und die Dünenlandschaft im Westen – nicht betreten. Da bleibt also nicht viel mehr als das Dorf selbst, der Strand und neben einigen Dünenpfaden die beiden gepflasterten Hauptwege: einer zum (natürlich im Winter geschlossenen) Zeltplatz an der Westspitze und ein Rundweg in Richtung der Hermann-Lietz-Schule, des einzigen Inselinternats Deutschlands.

Aber es wird noch übersichtlicher: Von den Geschäften, Restaurants und touristischen Vergnügungen sind gefühlte weitere 90 Prozent in der Winterpause. Die Inselbäckerei, das Inselmuseum, das Inselkino, die Pferdebahn: geschlossen. Was geöffnet hat, ist nur zu eingeschränkten Zeiten nutzbar: das Inselbad am Wochenende, das Nationalparkhaus am Dienstag und Samstag, das Kurgasthaus in der Woche von 9 bis 12 Uhr. Im Edeka-Markt gibt es Lücken im Regal, bei Schröders Feine Kost ist das Angebot in der Käsetheke reduziert, das Joghurtregal überschaubar: Die Fracht kommt derzeit nur einmal statt zweimal die Woche wie in der Hauptsaison.

Das Verrückte an der Sache ist nun, dass das wenige Verbliebene mehr als genügt. Weil so viel nicht geht, wird der Rest um so genauer genossen und abgewogen. Gehe ich heute den Rundweg erst über den Tranpad und dann den Hellerpad? Oder erst den Hellerpad und dann den Tranpad? Schlafe ich neun oder zehn Stunden? Oder lieber acht und nachmittags noch mal eine? Und die frischgebackenen Waffeln im Café Teetied: lieber mit heißen Kirschen und Sahne oder mit heißen Kirschen und Vanilleeis?

Nichts tun können heißt nichts tun dürfen. Und damit hatte ich die letzten Tage reichlich zu tun.

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Heute dann: plötzlich eine Invasion am Strand. Außer mir ganze sieben Spaziergänger am Horizont. Klar, ist Wochenende, da strömen die Massen.

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0205duenen Der Blick vom höchsten Punkt Spiekeroogs, der Wittdün, 24,1 Meter über NN und damit die höchste natürliche Erhebung Ostfrieslands. Da hätte ich nicht hinaufsteigen dürfen, wie mir kurz danach klar wurde: Die Dünen sind Naturschutzgebiet, Betreten ist verboten. Mache ich nie wieder.

0205strand links Das ist der Strand links runter.

0205strand rechts Und dies ist der Strand rechts runter. Weit und breit keine Menschenseele. Fantastisch!

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0205abend Die Fähre von Neuharlingersiel braucht 40 Minuten, während der Überfahrt sinkt links die Sonne ins Meer. Drüben, auf der anderen Seite rumpeln ein paar Koffer über das Pflaster und dann – nichts. Stille. Totale atemberaubende Stille. Spiekeroog ist autofrei, nur ein paar Elektrokarren für den Frachttransport sind erlaubt und natürlich Feuerwehr- und Rettungsautos für den Notfall. Die Ruhe ist anfangs fast irritierend. Irgendwas fehlt, sagt das Ohr, sagt das Hirn.

Schneller erster Spaziergang: Die meisten Geschäfte und Restaurants machen Winterpause, die Saison beginnt im März/April. Kann sein, dass einige Ende Februar kurz für die Karnevalsflüchtlinge öffnen (so wie am vergangenen Wochenende für die niedersächsischen Zeugnisferien), doch die meisten der 750 Insulaner nutzen die Nebensaison dazu, schnell noch einen Urlaub einzuschieben, bevor es wieder los geht.

0205haus Nachts gehe ich noch mal mit dem Hund zum Hafen – und plötzlich ist da ein Zuviel statt eines Zuwenigs: Sterne am Himmel in einer Helligkeit, wie man sie in der Stadt nie sieht. Ein Radfahrer kommt mir entgegen, ich sage »’n Abend«, er sagt »Moin«: Jepp, ich bin zuhause.