Das Rathaus von Spiekeroog sieht so aus, als ob es in einer Modelleisenbahnstadt stünde: ein zweistöckiges rotgeklinkertes Haus, an dem fast das Größte das Schild »Rathaus« über der Tür ist. Gleich hinter dem Eingang steht eine Büste von Johannes Rau, der jahrzehntelang seine Ferien auf Spiekeroog verbracht hat, in der Inselkirche geheiratet und dort seine drei Kinder hat taufen lassen. Nach einer Operation hat er sogar eine Zeitlang seine Amtsgeschäfte als Bundespräsident vom Spiekerooger Rathaus aus geführt; auf der Insel wird er auch acht Jahre nach seinem Tod noch verehrt.
Die Treppe hoch, und dann steht man auch schon im Büro von Bürgermeister Bernd Fiegenheim. Die Tür ist offen, ein Vorzimmer gibt es nicht, der Bürgermeister kocht persönlich den Tee. Was uns auch gleich zum Thema bringt, das mir auf der Insel immer wieder begegnet ist: Zuständigkeit. Was hier zu tun ist, muss man selber machen. In der Großstadt kann man sein Leben wegdelegieren, hier nicht. Hätte man gern einen Fußballverein für die Kinder? Dann muss man es persönlich in die Hand nehmen. Sind Bäume im Sturm gefallen? Die beseitigen sich nicht von allein. Es gibt keine Instanzen, über die es sich am Festland so bequem schimpft – »den Staat«, »die Politik« –, sondern es gibt Nachbarn. Der Lars vom Zeltplatz-Kiosk: Vorsitzender des achtköpfigen Gemeinderats. Frauke Strothmann vom Islandhof: zuständig für Dorfgestaltung und Bepflanzung; sie hat auch die Lederstühle im Ratssaal ausgesucht. In der Gemeindeverwaltung arbeiten sieben Leute, alle mit Mehrfachfunktionen: Annette Pichler ist Standesamt und Einwohnermeldeamt und Bauamt in Personalunion. »Wir hatten einen Elektriker«, sagt Fiegenheim, »der eigentlich seit fünf, sechs Jahren gar nicht mehr offiziell zuständig ist. Das merkt man nur nicht, er kümmert sich einfach weiter um die Straßenlaternen.« Einer für alle, alle für einen, und jeder für sich: Im Gemeinderat gibt keine Parteien, »ich habe also keine Fraktionsvorsitzenden, mit denen ich reden kann, sondern muss bei jeder Entscheidung acht Einzelgespräche mit den Ratsmitgliedern führen.«
Was auf den ersten Blick so wunderbar basisdemokratisch und modelleisenbahnidyllisch klingt, wird bei Konflikten schnell hässlich. Nämlich persönlich. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen, man teilt das ganze Leben miteinander. Tagsüber arbeitet man zusammen, abends trifft man sich wieder im Sport- oder Musikverein oder in der einen Kneipe. Wenn es also kracht, dann richtig, weil unentrinnbar. Als vor einigen Jahren der millionenschwere Bremer Reeder und Investor Niels Stolberg begann, die Insel aufzukaufen – innerhalb kürzester Zeit gehörten ihm plötzlich ein gutes Dutzend Apartment-, Hotel- und Geschäftshäuser –, spaltete das die Gemeinde. Die einen sahen ihn als frische Brise, die anderen als Tsunami, der alles Gewachsene hinwegfegte. Pro Stolberg oder gegen ihn, diese Frage war die Sollbruchstelle von Spiekeroog. Plötzlich grüßten sich einige nicht mehr auf der Straße, plötzlich erstarben Gespräche an der Theke vom »Blanken Hans«, der Riss ging quer durch manche Familien.
Stolbergs Firmengeflecht ist seit 2011 pleite, seine Spiekerooger Immobilien, darunter auch das ehrgeizig gestartete Künstlerhaus, sind Teil der Insolvenzmasse; für einige Häuser haben sich bereits neue Besitzer gefunden (ein längerer FAZ-Artikel über Stolbergs Rolle auf Spiekeroog hier, ein noch längeres ARD-Feature über den ganzen komplexen Fall Stolberg und den Fall Stolbergs hier). Auch wenn alle froh sind, dass der Zankapfel wieder von der Insel gerollt ist – die Stolberg-Jahre haben Narben hinterlassen. Vielleicht um so mehr, als die Spiekerooger zuvor immer Meister im Sozialschach waren, wie das bei sehr kleinen hermetischen Gemeinschaften oft der Fall ist: Bei jedem Schritt wird abgewägt, welche Konsequenzen der wohl haben könnte. Ich will einen Baum im Garten pflanzen – wie findet das mein Nachbar? Und welche Auswirkungen hat seine Reaktion wiederum auf mich? Man muss immer zwei, drei Züge im voraus denken, Missverständnisse einkalkulieren oder besser gleich im Vorfeld ausräumen – und vieles einfach lassen.
Das bringt mich – Schnitt – zu mir und diesem Jahr. Schon nach zwei Monaten ist klar: Das geht nicht so wie bei der Weltreise. Kein bisschen. Vorher hatte ich naiv gedacht: Selbes Prinzip, zwölf Monate/zwölf Orte, nur dieses Mal halt in Deutschland – läuft. Läuft aber nicht. Ich kann nicht einfach so losreisen und -schreiben, wie ich das 2011 getan habe. Was ich schreibe, hat sofortigen Rückkoppelungseffekt auf das Beschriebene, das Beobachten verändert das Beobachtete. Und deshalb werde ich stumm und immer stummer. Oder auch scheu und immer scheuer. Mal eben in das Leben anderer hineinzuschlendern, von ihnen zu erzählen und sie quasi zu Statisten meines Projekts zu machen – mit welchem Recht denn bitte? Gerade auf Spiekeroog, das ich in den vergangenen vier Wochen sehr lieb gewonnen habe, erscheint mir mein Tun plötzlich mächtig ungezogen. Die Leute hier haben mir freundlich die Türen geöffnet (die ja ohnehin nie abgeschlossen sind, auch das sagt viel über Spiekeroog), da gehört es sich nicht, sie vor meine innere Kamera zu zerren. Lieber bei der tollen Tante Fidi oder den so enorm liebenswerten Schröders Tee trinken und Kekse essen und dann nichts schreiben als deren Vertrauen zu missbrauchen. Ich mag auf der Suche nach meiner Heimat keine Heimsuchung sein.
Und deshalb mache ich an dieser Stelle Schluss. Es tut mir von Herzen leid, aber ich werde vorerst nicht mehr bloggen. Leben ist wichtiger als Schreiben, habe ich beschlossen. Kurz habe ich überlegt, das ganze Unternehmen gleich ganz abzubrechen und einfach nach Hamburg zurückzufahren (denn wozu den Umweg über Bochum und Bielefeld machen, wenn ich eh schon weiß, wo mein Zuhause ist?), aber dafür bin ich leider zu neugierig. Also geht es am Donnerstag weiter nach Potsdam, nur ab sofort eben nicht mehr mit dem Block in der Hand und dem Blog im Kopf und einem möglichen Buch im Blick. Ich möchte mir wenigstens einen Teil der Unbefangenheit und Absichtslosigkeit zurückerobern, die mich damals auf der Weltreise so weit gebracht haben. Kann sein, dass die für alle Zeiten dahin sind – ganz aufgegeben habe ich sie aber noch nicht.
Noch mal Schnitt. Bernd Fiegenheim habe ich über das Bullerbü-Prinzip von Spiekeroog ausgefragt, das nach meiner Wahrnehmung Segen und Fluch zugleich für die Insulaner ist. Für viele Stammgäste, die oft in dritter oder vierter Generation auf die Insel kommen, ist die Insel ein Stück heile Welt. Ein paar Wochen im Jahr lebt man den Traum von Gemeinschaft, wie man ihn zuhause schon längst nicht mehr kennt. Ein Leben, wie man es als Kind gemalt hat: den Bäcker, den Polizisten, den Pfarrer, den Bürgermeister, den Bildhauer, den Briefträger, den Dünensänger, den Typen mit dem Gänseblümchen im Bart. Vertraut seit Jahrzehnten. Verlässlich. Und deshalb auch verlangt. Wie ist es, so eine Rolle im Leben der Gäste zu spielen, so ein stabiles Paralleluniversum darstellen zu sollen, habe ich Fiegenheim gefragt, auch wenn man sich selbst mit ganz anderen Problemen herumschlägt? Mit Problemen wie der Stolberg-Pleite und den dringend zu erneuernden Pflasterstraßen außerhalb des Dorfes, die eigentlich Kreissache wären, wenn es nun mal keine Insel wäre, und dem Kinderhort, der auch für die derzeit sieben Kinder betrieben werden muss, und dem quälendsten Problem, dem fehlenden Wohnraum für die Insulaner, der einfach nicht gebaut wird, weil kein Investor da ran mag: 1,5mal höher als auf dem Festland sind die Baukosten wegen der Transportwege für die Baumaterialien und der über Monate zu finanzierenden Unterkünfte für die Bauarbeiter von drüben.
Bernd Fiegenheim ist ein verbindlicher Mann, ein studierter Sozialpädagoge, ehemaliger Leiter eines Mutter-und-Kind-Erholungsheims. Und deshalb hat er auch verbindlich und nicht in diesen Worten auf meine Fragen geantwortet: Die ständige Verfügbarkeit, die hohe Vertraulichkeit, die »Ich komme schon seit 30 Jahren hierher«-Ansprüche, die fast schon familiäre Beschlagnahmung durch die Stammgäste – das schlaucht. Wie gesagt: hat er nicht gesagt. Ich mutmaße nur. Die Heile-Welt-Erwartungen der Besucher erfüllen zu müssen, während ganz andere Mächte an einem zerren, Saison um Saison eine Tip-Top-Performance zu bieten, aber dabei bitte wahnsinnig authentisch, denn das ist nun mal die Existenzgrundlage dieses Dorfes – das schlaucht.
Hat er nicht gesagt. Mutmaße ich nur. Kann sein: aus Gründen. Kann sein, dass ich mit der Situation was anfangen kann. Jedenfalls möchte ich keine Heimsuchung sein, nicht hier und nicht in den nächsten Orten. Ich bin ab sofort einfach nur da und schaue mich ohne Verwertungszwang um, der Rest ergibt sich. Oder halt nicht. Wie das Leben eben spielt.