Archiv des Autors: Meike Winnemuth

Weltstadtformat

0108mitty Die ältere Dame in der Schlange vor mir: »Wat habense denn heute im Angebot?«
»Walter Mitty, Der Medicus, allerdings auf Englisch, und Sein letztes Rennen. Mit Dieter Hallervorden.«
»Ach, mit dem Didi?«
»Ja, aber nicht lustig.«
»Stimmt, der kann auch ganz anders. Ja, den nehme ich denn.«
Es ist Mittwochmorgen, kurz vor halb zehn, alle anständigen Menschen sitzen im Büro oder tun sonst was für die Volkswirtschaft. Und wir sitzen im Kino. Das Broadway in Trier macht jeden Mittwoch zur Frühstückszeit drei Säle auf, Eintritt sechs Euro, Kaffee und Tee (aus dem Samowar!) gibt es für lau dazu. Großartig. Ich wüsste kein Kino in Hamburg, das so was macht. (Ich übrigens: Walter Mitty. Genau richtig für diese Tageszeit.)

Im Hellen

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So, und jetzt noch mal bei Licht betrachtet: Trier von oben. In diesem Fall von ganz oben, von der Mariensäule am gegenüberliegenden Moselufer aus. Damit steht schon ein Plan für die nächsten Monate: den höchsten Punkt des jeweiligen Ortes suchen und von dort ein Foto machen. (Ich freue mich schon auf Spiekeroog. Höchster Punkt dort: Wittdün mit 24,1 Meter über NN, die höchste natürliche Erhebung von ganz Ostfriesland.)

0107liebfrauenDie Mariensäule selbst ist ein reiner Protestbau, zur Zeiten der preußischen Herrschaft von der katholischen Stadtbevölkerung finanziert, quasi als erhobener Mittelfinger in Richtung der Konstantinbasilika, die zur protestantischen Kirche umgewidmet worden war. Wie viel Zank schon immer zwischen den Religionen im kleinen Trier war, sieht man auch am Portal der Liebfrauenkirche: das Judentum dargestellt mit gebrochener Tora-Rolle, blind und mit fallender Krone – gemauerter Antisemitismus.

Aber nein, so wollte ich eigentlich nicht anfangen, dazu fand ich die ersten beiden Tage viel zu lieblich. Die Mosel in der Wintersonne, mein verschlafenes Dörfchen Pallien mit dem plätschernden Bach, der hinter dem Haus fließt – für mich als Großstädterin ist fast am verstörendsten, dass man sich zwanzig Fußgeh-Minuten vom Stadtzentrum entfernt komplett wie auf dem Land fühlen kann. Vielleicht war ich deshalb so stumm die letzten Tage: Es war wie eine Vollbremsung. Und jetzt muss ich ganz vorsichtig wieder in Fahrt kommen.

Im Dunkeln

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Das ist Trier. Das ist kein gutes Bild von Trier, noch nicht mal ein scharfes. Aber es ist das erste, abends nach der Ankunft beim Gassigehen von einem Berg irgendwo am anderen Moselufer gemacht, mit klopfendem Herzen und großer Vorfreude.

Nach all den vielen Reisen der letzten Jahre, in der Welt und auf Lesetour in Deutschland, habe ich eines gelernt: Es gibt nichts Schöneres, als im Dunkeln anzukommen. Man sieht nicht viel, man ahnt nur etwas, man hat ein unbestimmtes Empfinden. Und dieses Empfinden hat mich noch nie getäuscht: Eine Stadt, die ich im Dunkeln mag, mag ich auch im Hellen.

In diesem Fall kann ich über die Stadt noch gar nichts sagen, denn ich werde erst morgen nach Trier hinübergehen. Ich wohne in Pallien (hinten ausgesprochen nicht wie Wien, sondern wie Italien), einem Straßendörflein am linken Moselufer genau gegenüber der Innenstadt. Zur Porta Nigra sind es nur 1,5 Kilometer, und trotzdem hatte ich heute das Gefühl, irgendwo auf dem Land angekommen zu sein. Ein Kirchlein steht gegenüber meinem Haus, ein Bächlein plätschert – das Lauteste im Haus ist die Uhr an der Wand.

Bin ich jetzt größenwahnsinnig geworden, dass ich ein ganzes Haus gemietet habe? Nein: Es ist dieses Häuslein (sorry für all die Diminutive – es ist reines Entzücken, nicht Verachtung). Eine Küchenzeile, ein kleiner Tisch, ein Sofa im Erdgeschoss, über eine steile Treppe geht es zum Schlafzimmer hinauf (genauer: es gibt zwei Schlafzimmer, falls mal wer kommt). Gefunden habe ich es über airbnb, wie so viele meiner Unterkünfte auf der Weltreise. In Deutschland, zumindest ist das bisher mein Eindruck, geht es genau so einfach. Und ebenso wie auf der Weltreise gibt es bei längeren Aufenthalten Sonderkonditionen, die den Monat nicht teurer machen als eine normale Miete daheim.

0105erstesmaljanuarEine Tradition des alten Weltreiseblogs war ja Das erste Mahl, die erste Mahlzeit im neuen Heim: Mache ich jetzt einfach mal weiter, ja? Zumal es ein so schönes und überraschendes Mahl war: Sandra, meine Vermieterin, hatte mir eine Platte mit Antipasti in den Kühlschrank gestellt und eine Flasche Riesling-Jahrgangssekt der Vereinigten Hospitien. Beides nach der langen Fahrt hochwillkommen und schnell geleert.

Es geht gut los.

Fremde

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Kurz vor los, und die Welt beginnt wieder zu singen. Auf der Straße treffe ich meinen Nachbarn Jonas (sein Boxermischling Micky ist der einzige Hund weit und breit, vor dem Fiete richtig Muffe hat), wir reden über das Reisen, er erzählt von seinen Wanderjahren als Zimmermannsgeselle. Drei Jahre und ein Tag sind Pflicht nach dieser 800 Jahre alten Tradition; er war fast vier Jahre ein »Fremder«, wie die Wandergesellen genannt werden, und hat dabei ganz Deutschland gesehen. »Ein wunderschönes Land«, sagt er. Wir reden übers Weggehen und Wiederkommen, und er sagt: »Wer weggeht, zeigt, dass er seinen Beruf erst nimmt. Aus all jenen, die auf Wanderschaft gegangen sind, ist etwas geworden.«

Nachts, beim letzten Spaziergang, komme ich an einer Bank vorbei, auf der ein paar Bücher von Camus zum Mitnehmen ausgesetzt wurden, schön säuberlich aufgereiht. Darunter »Der Fremde«, das ich nie gelesen habe. Ich nehme es dankbar mit. Serendipity. Es beginnt schon wieder.

Frohes neues Jahr

140101 alster Ich bin noch da, wie man sieht. Also: hier. In Hamburg. Und wie immer vor einer großen Reise bin ich so da wie nie. Schon vor der Weltreise waren die letzten Tage vor dem Aufbruch seltsam melancholisch. Ich gucke mir die Stadt an, als ob ich sie nie wieder sehen dürfte. Ich inhaliere Anblicke und Ausblicke, an denen ich sonst achtlos vorbei gehe, und frage mich mindestens dreimal am Tag: Warum willst Du weg von hier, was soll das eigentlich? Die Antwort wird mir, auch das kenne ich ja schon, genau in dem Moment einfallen, wenn ich am ersten Ziel angekommen bin.

Dieses Mal geht es nicht am 1. Januar los, sondern am 5., es schieben sich noch ein paar medizinische Termine dazwischen (keine Sorge, nichts Schlimmes). Ich melde mich dann ab dem 6. aus Trier. Ach so, mein Kapuzenpulli ist noch erklärungsbedürftig – und passt zum Thema Deutschland. Er zeigt Per Mertesacker, der ja gerade für Arsenal London spielt. Und dem dort die höchste Ehre widerfährt, die ein Deutscher im englischen Fußball erleben kann: einen eigenen Fangesang. »Big fucking German, we’ve got a big fucking German! Big fucking Geeeeerman…«

Das T-Shirt zum Gesang gibt es über die Per-Mertesacker-Stiftung, der Erlös geht an Kinder in Not.